Sexueller Missbrauch – Falschbelastungsmotiv und Verteidigererfahrung

Motiv für falsche Belastung

Nach 19-jähriger Tätigkeit als Strafverteidiger in Sexualstrafsachen steht Folgendes für mich fest:

Wenn kein Motiv für eine Falschbelastung gefunden wird, kann das nur zwei Ursachen haben: Entweder handelt es sich um einen Fall der einer durch suggestive Einflussnahme entstandenen Falschaussage – dazu auf der nächsten Seite – oder es wurde schlichtweg nicht sorgfältig genug nach dem Motiv für die Falschbelastung gesucht.

Oft tragen Beschuldigte Fälle an mich heran, in denen zunächst ein anderer Verteidiger tätig geworden sind [hier mehr zur Frage des Verteidigerwechsels während des laufenden Verfahrens].
Wenn in deren Verteidigungsschriften und Hauptverhandlungsstrategien – sofern beides überhaupt vorhanden – kein Aussagemotiv auftaucht, liegt das – neben oberflächlicher oder schlichtweg inkompetenter Bearbeitung – nicht selten daran, dass die Suche nach möglichen Motiven für eine falsche Aussage auf mögliche Gründe für eine falsche Belastung gerade des Beschuldigten beschränkt bleibt.

Findet man ein solches „Falschbelastungsmotiv“ nicht, werten das unerfahrene Verteidiger als ein Beleg für die Objektivität der Zeugenaussage und damit als ein Indiz für ihre Richtigkeit.

Zufällig beschuldigt

Wird kein Motiv für eine Falschaussage gefunden, kann die Ursache natürlich sein, dass es keine Falschaussage ist. Ist es aber doch eine, wird deshalb kein Aussagemotiv gefunden, weil fälschlicherweise vom Suchenden angenommen wird, dass es einen wie auch immer gearteten beziehungstechnischen Zusammenhang zwischen dem falsch aussagenden Zeugen und dem von ihm Beschuldigten geben müsse. Das ist Unsinn!

Das mit einer Falschaussage angestrebte Ziel eines Zeugen (der zum Zeitpunkt seiner Aussage selbst ja gar kein Kind mehr sein muss) muss keineswegs zwingend irgendetwas mit dem Beschuldigten zu tun haben:
Eine Falschaussage kann in dem Bestreben begründet sein, sich in einer prekären Situation selbst zu entlasten oder sich Vorteile irgendwelcher Art zu verschaffen.

Der Beschuldigte kann also nur zufällig ausgewählt und für die eigenen Ziele des Zeugen instrumentalisiert worden sein, weil gerade der Beschuldigte in vom Zeugen oder von der Zeugin erfundene Geschichte zu passen schien.

Gelegentlich erheben Jugendliche oder junge Erwachsene bewusst unwahre Behauptungen angeblicher Übergriffe zu ihren Lasten im Kindesalter, um damit den Beschuldigten bewusst zu schädigen.

In dem Verfahren 84 Ls 2261 Js 19859/10 vor dem Schöffengericht in Wiesbaden überführte ich eine Zeugin einer solchen Falschaussage, deren Motiv in der Rache für eine arbeitsgerichtliche Klage des von ihr Beschuldigten gegen ihren Vater lag. Trotz meiner mehrfachen Hinweise auf diesen motivationalen Umstand bereits im Ermittlungsverfahren erhob die Staatsanwaltschaft Wiesbaden Anklage; das Verfahren endete mit einem Freispruch, den die Staatsanwaltschaft nicht mit Rechtsmitteln angriff.

Küchen-Psychologie

Umgekehrt ist es ebenfalls ein Verteidigerfehler, Äußerungen eines Zeugen oder einer Zeugin, in denen Verbitterung, Hass, Enttäuschung oder ein Rachebedürfnis zum Vorschein kommen, als Motiv für eine Falschaussage zu bewerten und die Motivsuche damit zu beenden.

Derartige emotionale Reaktionen werden von den Gerichten regelmäßig als „nachvollziehbare Reaktion auf schwere Straftaten“ bewertet und damit mit dem Segen obergerichtlicher Rechtsprechung aus dem Kanon der Falschbelastungsmotive aussortiert. In der Tat ist die Vorstellung eines völlig emotionslosen Zeugen, der die Inkarnation der Objektivität darstellt, schon bei Körperverletzungsdelikten unter Nachbarn realitätsfremd.

Mit solch küchenpsychologischen Argumentationen darf sich die Verteidigung also nicht zufriedengeben.

Welche Rolle die gründliche Ausforschung eines Sachverhaltes nach Falschbelastungsmotiven spielt, zeigt sich der simple Satz aus dem Beschluss 3 StR 217/13 unseres Bundesgerichtshofs:

„Nach diesen Maßstäben ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft, denn sie unterlässt die hier notwendige Erörterung eines naheliegenden Falschbelastungsmotivs.“

Ich habe hier die nicht erst für die Verteidigung in der Revision in Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs, sondern schon für die Tätigkeit des Verteidigers in staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren wegen dieses Vorwurfs relevante Rechtsprechung unseres Bundesgerichtshofs zusammengestellt.