Sexueller Missbrauch – Suggestion als Ursache für Falschbelastung

Schein-Erinnerung

Scheinerinnerungen (in früheren aussagepsychologischen Aufsätzen auch als „Pseduoserinnerungen“ oder „Gedächtnisillusionen“ bezeichnet) entstehen entweder durch autosuggestive oder fremdsuggestive Prozesse.

Scheinerinnerungen sind Darstellungen von fiktiven, also nicht tatsächlichen Episoden, z. B. als Kind oder Jugendlicher vermeintlich erlebtes Missbrauchsgeschehen, von deren tatsächlicher Existenz der Zeuge als Resultat der Auto- oder Fremdsuggestion selbst jedoch überzeugt ist.

Fremdsuggestion

Missbrauch

Kinder werden hier in der Tat missbraucht, aber nur durch denjenigen, der ihnen einredet, sie seien missbraucht worden und dabei den geringen Suggestionswiderstand, der Kindern aufgrund ihres Kind-Seins eigen ist, überwinden.

Die Suggerierenden machen die Kinder aus unterschiedlichen, allerdings ureigenen Motiven heraus glauben, missbraucht worden zu sein, wobei sie den Kindern sogleich bei der inhaltlichen wie auch chronologischen Aufbereitung der suggerierten Missbrauchssachverhalte, die tatsächlich niemals stattgefunden haben, behilflich sind.

Glaubhaftigkeit

Zahlreichen Untersuchungen an Kindern und Erwachsenen zeigen, dass suggestive Formen der Befragung unter bestimmten Bedingungen dazu führen, dass fiktive Episoden überzeugend als eigene Erlebnisse geschildert werden.
Die Gefährlichkeit dieses Phänomens liegt darin, dass diese Schilderungen derart plastisch sein können, dass die aussagepsychologischen Merkmale einer erlebnisfundierten Aussage erfüllt sind und daher selbst Fachleute solchen Aussagen Glaubhaftigkeit attestieren.

Der Verteidiger muss also mögliche suggestive Einflüsse erkennen, bereits im Ermittlungsverfahren darauf hinweisen und dafür sorgen, dass keine schematische Anwendung der Glaubhaftigkeitsmerkmale auf solche Aussagen etwa durch Sachverständige stattfindet (hier mehr zu dem in der aussagepsychologischen Literatur bestehenden Streit, ob und wenn ja, in welchem Umfang solche Aussagen einer Analyse überhaupt noch zugänglich sind).

Am Ende einer suggestiven Beeinflussung, die sich meist über Wochen oder Monate durch wiederholendes Befragen und stetiges „Nachbohren“ erstreckt, sind nicht nur Kinder oder Jugendliche selbst davon überzeugt, diese nur fiktiven Episoden sexuellen Missbrauchs real erlebt zu haben, sondern auch erwachsene Personen, denen – etwa in einem therapeutischen Setting – ein Missbrauch im Kindesalter suggeriert wurde.

Wildwasser & Co.

Nicht zu unterschätzen ist die Beteiligung von – meist weiblichen – Mitarbeitern sog. Opferberatungsstellen, die in jeder Strichmännchen-Zeichnung eines Kindes einen erigierten Penis suchen und nach längerem Suchen erfolgreich gefunden zu haben glauben.

Man denke nur an die Montessori-Verfahren oder die vor dem Landgericht Mainz geführten drei Wormser Missbrauchsprozesse, in denen alle 25 Angeklagten freigesprochen wurden und der Vorsitzende Richter Lorenz die mündliche Urteilsbegründung mit den Worten begann:

„Den Wormser Massenmissbrauch hat es niemals gegeben. Wir müssen uns bei allen Angeklagten zu entschuldigen.“

Noch während dieses Prozesses ließ uns die verbohrte Staatsanwältin wissen, die Verteidigung vertrete offenbar irrig die These, blindwütige Feministinnen hätten so lange auf Kinder eingewirkt, bis diese von Missbrauch berichteten.

Genau das und nichts anderes stellte sich heraus!

Der Verein Wildwasser trennte sich nach den Freisprüchen von der Mitarbeiterin, die die Kinder mittels suggestiver Techniken befragte und aufgrund der ihnen so suggerierten Antworten einen Beweis für einen „Massenmissbrauch“ gefunden zu haben. An dieser Vorstellung hielt sie auch nach den erfolgten Freisprüchen fest.  

Nach inzwischen 21-jähriger Erfahrung in der Verteidigung von Missbrauchsverfahren habe ich in dutzenden Fällen feststellen können, dass die Angaben von Kindern nach der Mitwirkung von Mitarbeiterinnen solcher Opferschutzorganisationen erstmals überhaupt eine belastende Kontur erhielten.

Freispruch

In einem Verfahren vor dem Landgericht Aschaffenburg (KLs 102 Js 10391/10 ) stellte sich heraus, dass die Hauptbelastungszeugin erst nach einem „Beratungsgespräch“ mit zwei Mitarbeitern des „Weisser Ring e. V.“ kundgetan hat, der Angeklagte habe sie nicht nur berührt, sondern sei auch mit dem Finger in ihre Scheide eingedrungen.

Als auf meinen Beweisantrag die beiden Mitarbeiter vernommen wurden, konnte ich belegen, dass sie der vermeintlich Geschädigten den Unterschied zwischen sexuellem Missbrauch von Kindern, § 176 StGB, und schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, § 176c StGB, der beispielsweise bei einem Eindringen in den Körper verwirklicht sei, erläuterten.

Ausgerüstet mit dieser wesentlichen Information, die das Mindeststrafmaß pro Einzelfall auf zwei Jahre anhebt, intensivierte die vermeintlich Geschädigte ihre Belastungen im Sinne des schweren sexuellen Missbrauchs.

Der Angeklagte wurde mit Urteil vom 6. Juni 2014 vom Vorwurf des mehrfachen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern freigesprochen.

Fehlbarkeit

Zuweilen können aber auch beruflich mit Missbrauchsverfahren befasste „Experten“ – allen voran Polizeibeamte und -beamtinnen – im vollen Ermittlungseifer unbeabsichtigt derart suggestiv vorgehen, dass im weiteren Verfahren nicht mehr feststellbar ist, welche Aussageteile möglicherweise Konstrukt einer Suggestion sind, und welche mit Sicherheit hiervon nicht betroffen sind. Wenn zuvor niemals die Rede davon war, dass das Kind den Penis des Beschuldigten berührte oder berühren sollte, ist die Frage, „Hat er nicht auch gesagt, dass du seinen Penis anfassen sollst?“, bereits suggestiv. Verneint das Kind, ist die wiederholende Frage, ob er das nicht doch getan hätte, ein Musterbeispiel hochgradiger Suggestion.

Selbst aussagepsychologische Sachverständige – vor allem solche jüngeren Alters – fragen oft in Explorationen suggestiv, ohne es selbst zu bemerken. Ich verteidige gerade in einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main und habe die aussagepsychologische Sachverständige unter anderem wegen massiver suggestiver Beeinflussung des einzigen Belastungszeugen während der sog. Exploration namens des Beschuldigten wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Da dieses Verfahren noch läuft, darf nichts auch in anonymisierter Form veröffentlicht werden. Das hole ich nach erfolgtem Freispruch nach.

 

Identifizierung

Eine suggestive Einflussnahme kann nicht nur zur Unbrauchbarkeit einer belastenden Zeugenaussage führen, sondern eine prozessordnungswidrig durchgeführte Wahllichtbildvorlage zur Identifizierung des Tatverdächtigen kann für die Hauptverhandlung einen derart hohen suggestiven Charakter entfalten, dass der Beschuldigte so zu stellen ist, als habe es die Wahllichtbildvorlage nie gegeben: 

In einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Fulda wegen des Verdachtes des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern monierte ich die mangelhafte Identifizierung des Beschuldigten bei einer kriminalpolizeilichen Wahllichtbildvorlage.

Nachdem nur einer von vier Zeugen bei einer Wahllichtbildvorlage Ähnlichkeiten mit einem Tatverdächtigen festgestellt hatte, wurden alle die Wahllichtbilder allen vier Zeugen gleichzeitig vorgelegt und ein Tatverdächtigter unter Beteiligung aller Zeugen herausgesucht.

Sitzt dieser Verdächtige nun im Gerichtssaal auf der Anklagebank, entfaltet die falsch durchgeführte Wahllichtbildvorlage suggestiven Charakter und das Wiedererkennen in der Hauptverhandlung hat keinerlei Beweiswert, weil der Angeklagte nicht mit dem Täter, sondern mit der bei der Lichtbildvorlage als verdächtig angesehenen Person verglichen wird. Die Eröffnung des Verfahrens wurde nach meinem Vortrag im Zwischenverfahren vom Landgericht Fulda abgelehnt.

Vorbelastung

Eltern, die entweder tatsächlich oder aber in ihrer Vorstellung selbst missbraucht worden sind, neigen dazu, alltägliche Situationen, wie ein ohne jede sexuelle Motivation geschehenes Auftragen von Sonnenschutzmittel auf nicht erogene Körperstellen oder ein Berühren beim Toben im Schwimmbad, fälschlich aufgrund eigener realer oder vermeintlicher Missbrauchserfahrungen als sexuell motiviert und so als sexuelle Missbrauchshandlung anzusehen.

Bei der Befragung des eigenen Kindes wird dieses dann – zuweilen auch unbewusst – von vorbelasteten Eltern derart suggestiv beeinflusst, dass es am Ende der meist monatelang andauernden Prozedur selbst an einen geschehenen Missbrauch glaubt.

Formen

Zu den häufigsten Beeinflussungen zählt die Induzierung von Stereotypen:

Dem Kind wird gesagt wird, der „Täter“ habe auch mit anderen Kindern „böse Dinge“ angestellt, säße nun schon im Gefängnis, so dass das Kind nun ruhig „alles“ sagen könne.

So wird dem Kind das Stereotyp eines bösen Menschen vermittelt, dem alles zuzutrauen sei. Unter anderen hat die Studie von Stephen LEPORE und Barbara SESCO, „Distorting children’s reports and interpretations of events through suggestion“  gezeigt, dass Kinder unter diesen Bedingungen der Induzierung von Stereotypen deutlich vermehrt negative Aussagen über eine so beschriebene Person tätigen.

Die Vorstellung aller bislang bekannten Suggestionsformen würde den Umfang dieser kurzen Einführung in die Verteidigungstätigkeit bei dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs sprengen, jedoch sei noch eine weitere häufig anzutreffende Suggestionsform erwähnt: Die wiederholte Befragung.

Untersuchungen von CASSEL, ROEBERS & BJORKLUND „Developmental patterns of eyewitness responses to repeated and increasingly suggestive questions“ zeigen, dass Kinder bei der Wiederholung einer Frage dazu neigen, ihre erste, womöglich richtige Antwort zu verwerfen:

„Nein, er hat mich nicht an der Scheide / am Penis berührt“

und eine andere Antwort zu geben

„Ja, es könnte sein, dass er mich an der Scheide / am Penis berührt hat“.

Dieser Umstand ist damit zu erklären, dass Befragungen von den befragten Personen nicht als bloßes Abrufen von Erinnerungen, sondern als Konversation verstanden wird, auf die gelernte Konversationsregeln angewandt werden:

In einer Konversation impliziert das Wiederholen derselben Frage, dass die erste Antwort aus Sicht des Fragenstellers unzulänglich oder gar falsch war. Dem befragten Kind wird so suggeriert, seine erste Antwort sei falsch gewesen, da der oder die Erwachsene ansonsten nicht Dasselbe noch einmal fragen würde.

Das Kind passt dann seine zweite, dritte oder gar vierte Antwort – so anzutreffen im Montessori-Prozess – an die Erwartungshandlung des fragenden Erwachsenen an. Der Inhalt der Antwort hat mit dem tatsächlichen Geschehen, das ermittelt werden soll, nichts mehr zu tun.

Autosuggestion

Seelenleben

Wir leben in einer Zeit, in der aufgrund des technischen Fortschrittes und der (zu) hohen Absicherung durch die Sozialversicherungsträger sehr viel Raum geboten wird, sich mit dem Wohlergehen seines Seelenlebens zu befassen, statt – wie noch vor 50 Jahren – seine Energien und Kräfte auf den täglichen Broterwerb zu bündeln.

Die in den letzten Jahren sprunghaft angestiegenen Psychotherapien zur Aufdeckung der Ursachen, weswegen es im Leben nicht so läuft, wie man es gerne hätte oder wie es andere erwarten, führen – schon alleine wegen des Drucks des Therapeuten, endlich eine Ursache für die nervliche Zerrüttung, das Scheitern in Schule, Studium oder Beruf, die Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, die Unfähigkeit, Beziehungen zu führten usw. usf. zu finden – zur Aufdeckung von angeblichem Missbrauch in der Kindheit.

therapeutisches Setting

Prof. Dr. Stoffels, Berlin, führt in seinem Aufsatz „Erinnerung und Pseudoerinnerung – Über die Sehnsucht, ein Trauma-Opfer zu sein“ aus, das schlechte psychische Befinden des Patienten verlange nach Erklärungen, die nur schwer zu finden seien.
Aus diesem Zustand ergebe sich eine hohe Empfänglichkeit für Erklärungen, bei denen erkennbare äußere Umstände oder sogar schuldige Dritte zu identifizieren seien, wodurch sich eine Erleichterung bei dem Patienten einstelle.

Wird der durch dieses therapeutische Setting „identifizierte“ Dritte „auf Rat des Therapeuten“ zur Erlangung eigener Katharsis angezeigt, entsteht so ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachtes des sexuellen Missbrauchs von Kindern.

Dem Beschuldigten fällt die Kinnlade herunter, wenn er die kriminalpolizeiliche Vorladung zur Vernehmung aus dem Briefkasten nimmt.

Schein-Erinnerungen

Als Scheinerinnerungen (auch „Gedächtnisillusionen“) werden Sachverhaltsschilderungen bezeichnet, von deren Richtigkeit die Aussageperson überzeugt ist, obwohl der berichtete Sachverhalt sich gar nicht oder jedenfalls nicht in der beschriebenen Form zugetragen hat.

Es handelt sich somit nicht um Lügen, die ja durch eine bewusste Täuschungsabsicht charakterisiert sind.

Die Grenzen zwischen unbeabsichtigten Irrtümern und Scheinerinnerungen sind fließend. Im Allgemeinen betreffen Irrtümer aber eher einzelne Details in einer ansonsten im Kern zutreffenden Sachverhaltsschilderung, während Aussagen, die auf Scheinerinnerungen beruhen, vollständig fiktive Ereignisse beinhalten können.

Über dieses Phänomen der Generierung von Scheinerinnerungen durch therapeutisches Setting gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, der Verteidiger muss die maßgeblichen kennen und bei der Erstellung der Verteidigungsstrategie stets im Blick haben.

Die Anfälligkeit für suggestive Beeinflussungen durch das therapeutische Setting ist besonders groß, wenn eine Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Erinnerungen einerseits und den suggerierten Informationen andererseits nicht oder nur eingeschränkt bemerkt wird. Das ist nach meiner Verteidigererfahrung meist der Fall, wenn die Erinnerungen aufgrund eines großen Zeitabstandes verblasst sind, wenn das Ereignis, auf das sich die suggerierten Informationen beziehen, nur beiläufig wahrgenommen wurde oder wenn die kognitiven Fähigkeiten der betroffenen Person begrenzt sind.