Bestimmtheitsgebot
Bestimmtheitsgebot des § 1 StGB und Art. 103 Abs. 2 GG
§1 des Strafgesetzbuches ist wortgleich mit Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes. Beide Vorschriften lauten:
„Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“
Inhalt des Bestimmtheitsgebotes – auch Bestimmtheitsgrundsatz genannt – ist sind die verfassungsrechtlichen Verbote der Rückwirkung und der Analogie sowie die Bindung des Strafrechts an geschriebene Gesetze. Diese Trias stellt eine programmatische Grundnorm dar, die für die Ausgestaltung eines rechtsstaatlichen Strafrechts konstituierenden Charakter hat.
Der Bürger muss sein Handeln an bestehenden Normen orientieren können und so seinen Freiheitsraum gegen unvorhersehbare Eingriffe des Staates durch entsprechende gesetzkonforme Auswahl seiner Handlungen und Verhaltensweisen sichern können.
Eine solche Ausübung der Freiheit bis an die Grenzen des strafbaren Bereichs ist nur dann möglich, wenn dieser strafbare Bereich erstens feststeht, bevor der Einzelne handelt und nicht ein Verhalten, das formal nicht strafbar war, aus populistischen Gründen im Nachhinein für strafbar erklärt wird und sodann früheres Verhalten gleichwohl nach einer diesem Verhalten zeitlich nachgelagerten Strafnorm bestraft wird.
Zweitens hat der Gesetzgeber die „Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen“ [so das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung BVerfG 2 BvR 2559/08, 2 BvR 105/09, 2 BvR 491/09 (Zweiter Senat) – Beschluss vom 23. Juni 2010 (BGH)]. Das Bestimmtheitsgebot verlangt daher, den Wortlaut von Strafnormen so zu fassen, dass die Normadressaten im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht [BVerfG aaO.].
Diese Frage der Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit einer Handlung ist bei solchen Straftatbeständen, die wertausfüllungsbedürftige Begriffe oder auslegungsbedürftige Tatbestandsmerkmale enthalten, sehr fraglich, so etwa beim Untreuetatbestand des § 266 StGB, der im ersten Absatz lautet:
„Wer die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, mißbraucht oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eines Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt und dadurch dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Wann missbraucht jemand denn eine solche Befugnis? Wann verletzt denn jemand seine Pflicht, anderer Leute Vermögensinteressen wahrzunehmen?
Es wird allzu deutlich, dass die Tatbestandsmerkmale der Untreue als solche nichtssagend sind und erst durch die Rechtsprechung konkretisiert werden. Aber verstößt das nicht gerade gegen das Bestimmtheitsgebot in dem oben dargestellten Sinne? Besteht nicht die Gefahr, dass den Staatsanwaltschaften ein überaus großer Ermessensspielraum bei der vorläufigen Bewertung eines Verhaltens als Anfangsverdacht einer Untreuehandlung eingeräumt wird, so dass die Einleitung von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, für die ja ein Anfangsverdacht vonnöten ist, nahezu willkürlich gehandhabt werden kann? Können Gerichte bei der Frage, ob ein von der Staatsanwaltschaft als Untreue angeklagtes Verhalten wegen der Weite und Unbestimmtheit dieses Tatbestandes nach Gutdünken verurteilen oder freisprechen, indem sie die ausfüllungsbedürftigen Tatbestandsmerkmale des Missbrauchs oder des Treuebruchs je nach Angeklagtem bald so, bald anders auslegen?
Das Bundesverfassungsgericht meint, der Untreuetatbestand genüge „noch“ dem Bestimmtheitsgrundsatz:
„Nach diesen Maßstäben ist der Untreuetatbestand in seiner geltenden Fassung mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG noch zu vereinbaren. § 266 Abs. 1 StGB lässt ein Rechtsgut ebenso klar erkennen wie die besonderen Gefahren, vor denen der Gesetzgeber dieses mit Hilfe des Tatbestands schützen will (1.). Vor diesem Hintergrund kann der Tatbestand trotz seiner Weite und damit einhergehenden relativen Unschärfe (2.) hinreichend restriktiv und präzisierend ausgelegt werden, um den unter dem Gesichtspunkt ausreichender Bestimmtheit bestehenden Bedenken angemessen Rechnung zu tragen (3.)“
Passagenweise wird der Pragmatismus des Bundesverfassungsgerichts deutlich:
„Das gesetzgeberische Anliegen ist angesichts des die moderne Wirtschaft prägenden Auseinanderfallens von Vermögensinhaberschaft und beauftragter Verfügungsmacht (Management) von hoher und zunehmender aktueller Bedeutung (vgl. Kindhäuser, in: Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Bd. 2, 2. Aufl 2005, § 266 Rn. 3). Dementsprechend existieren Straftatbestände, die „ungetreue“ Handlungen von Gesellschaftsorganen und anderen Vermögensverwaltern erfassen, mit im Einzelnen unterschiedlicher Ausgestaltung in zahlreichen europäischen Rechtsordnungen (vgl. Cappel, Grenzen auf dem Weg zu einem europäischen Untreuestrafrecht, 2009, S. 187 ff.)“
Je nun, dass ein Phänomen anderswo in Europa ebenfalls existiert, macht es dadurch keineswegs grundgesetzkonformer.
Wenn das Bundesverfassungsgericht ausführt, der Untreuetatbestand sei angesichts der Entwicklung des modernen Wirtschaftslebens von hoher und zunehmender aktueller Bedeutung, ist nun schwer nachvollziehbar, wie die von den Nationalsozialisten im Jahre 1933 eingeführte Fassung mit nur geringfügigen Änderungen den Anforderungen der modernen Wirtschaft gerade im Bereich der Bestimmtheit von Vermögensstraftatbeständen genügen kann.
Nach diesem erläuternden Beispiel aus dem Wirtschaftsstrafrecht bleibt noch ein Wort zu der Vereinbarkeit des Bestimmtheitsgebotes mit der sog. Wahlfeststellung zu sagen:
Eine wahldeutige Verurteilung setzt voraus, dass die angeklagte Tat nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht so eindeutig aufzuklären ist, dass ein bestimmter Tatbestand festgestellt werden kann, aber sich festzustellen ist, dass der Angeklagte einen von mehreren möglichen Tatbeständen verwirklicht hat.
Das Bestimmtheitsgebot ist nach Auffassung der Rechtsprechung mit dieser Wahlfeststellung zu vereinbaren, aber nur dann, wenn die Voraussetzungen der Wahlfeststellungen von dem erkennenden Gericht beachtet werden, worauf insbesondere der Verteidiger zu achten hat: Eine Wahlfeststellung kommt nämlich dann nicht in Betracht, wenn nach dem Zweifelsgrundsatz („in dubio proe reo“, d. h. im Zweifel muss zugunsten des Angeklagten entschieden werden) eine eindeutige, eine Verurteilung tragende Tatsachengrundlage geschaffen werden kann. Ein Tatrichter darf nach dem Zweifelsgrundsatz nur dann verurteilen, wenn ein Sachverhalt zu seiner vollen Überzeugung feststeht. Aus nur möglichen, im Zweifel gebliebenen Umständen darf nichts zu Lasten des Angeklagten hergeleitet werden. Nur wenn also mehrere Handlungsalternativen, die alle einen Straftatbestand erfüllen, feststehen, darf der Angeklagte wahldeutig verurteilt werden, wobei dann diese Vorgehensweise mit dem Bestimmtheitsgebot vereinbar ist. Bleibt aber auch nur eine Möglichkeit, nach der sich der Angeklagte nicht strafbar gemacht hat, so muss er zwingend freigesprochen werden.