Sexualstrafrecht – Autosuggestion

Schein-Erinnerungen

Suggestive Prozesse können sog. Scheinerinnerungen erzeugen.

Als Scheinerinnerungen (auch „Gedächtnisillusionen“) werden Sachverhaltsschilderungen bezeichnet, von deren Richtigkeit die Aussageperson überzeugt ist, obwohl der berichtete Sachverhalt sich überhaupt nicht oder jedenfalls nicht in der beschriebenen Form zugetragen hat.

Lügen

Es handelt sich bei Scheinerinnerungen also nicht um Lügen, die ja durch eine bewusste Täuschungsabsicht charakterisiert sind. Die Grenzen zwischen unbeabsichtigten Irrtümern und Scheinerinnerungen sind fließend.

Irrtümer betreffen eher einzelne Details einer ansonsten im Kern zutreffenden Sachverhaltsschilderung, während Aussagen, die auf Scheinerinnerungen beruhen, komplett fiktive Ereignisse beinhalten können.

Suggestive Prozesse

Scheinerinnerungen entstehen durch suggestive Prozesse, die von außen auf die Aussageperson einwirken, vor allem in Form der suggestiven Befragung. Diese Form der Suggestion wird als Fremdsuggestion bezeichnet.

Werden die suggestiven Prozesse von der betroffenen Person selbst generiert, handelt es sich um Autosuggestion.

Autosuggestion

Autosuggestionen sind gegenüber Fremdsuggestionen bisher deutlich weniger intensiv erforscht worden, weswegen sie – vor allem im Zusammenhang mit belastenden Aussagen in Missbrauchs- oder sonstigen Sexualstrafverfahren – selten erkannt werden.

Werden sie erkannt, besteht die Gefahr, dass sie aussagepsychologisch falsch beurteilt werden.

Unterschätze Wirkung

„Falsch“ heißt dabei aus meiner Sicht als Strafverteidiger, dass die verzerrende oder gar völlig entstellende Wirkung solcher autosuggestiven Prozesse auf die Erlebnisbasiertheit – kurz: die Wahrheit – von Aussagen eines Belastungszeugen zu Lasten des Beschuldigten unterbewertet wird.

Therapeutisches Setting

Autosuggestive Prozesse sind dadurch gekennzeichnet, dass Details, die in Summe einen Sachverhalt darstellen, nicht von außen an die Aussageperson herangetragen (etwa durch suggestive Fragetechniken), sondern von ihr selbst generiert werden.

Auslöser dafür können beispielsweise Äußerungen von Dritten – allen voran durch Psychotherapeuten im therapeutischen Setting – sein, die nahelegen, dass vorhandene psychische Störungen Folge früherer Erlebnisse des sexuellen Missbrauchs sind.

Die von diesen Störungen Betroffenen sind nach solchen „Diagnosen“ im höchsten Maße motiviert, zu dieser These des sexuellen Missbrauchs irgendetwas in ihrem Gedächtnis zu finden, um – nach eigener Auffassung – ihre psychischen Probleme erklären und letzten Endes heilen zu können.

Sie denken kurzum, wenn sie sich mit der – vermeintlichen – Wurzel ihres psychischen Übels befassen, es rauf und runter analysieren, sei dies der Schlüssel zur psychischen Gesundung.

imagination inflation effect

Diese Analyse und das Suchen in den eigenen Erinnerungen werden nicht selten ergänzt durch Recherchen zum Thema „sexueller Missbrauch“ in den unergründlichen Weiten des Internets und die Lektüre thematisch passender Literatur.

Wenn dann vermutete (fiktive) Erlebnisse in diesem Prozess des Analysierens, des Suchens, des Sich-Informierens wiederholt imaginiert werden, werden die Betroffenen zunehmend sicher, dass sie selbst einen oder mehrere Fälle des sexuellen Missbrauchs im Kindes- oder Jugendalter tatsächlich erlebt haben. In der aussagepsychologischen Literatur wird dieser Vorgang als „imagination inflation effect“ bezeichnet.

Am Ende des beschriebenen Prozesses steht eine umfangreiche, detaillierte Aussage über ein fiktives Ereignis, von deren Richtigkeit die Aussageperson subjektiv fest überzeugt ist -die aber nicht das Geringste mit dem wirklich Geschehenen zu tun hat.

Pech hat vor allem derjenige, der von dem durch autosuggestive Prozesse derart Verblendeten eines so gravierenden Sexualdeliktes wie des (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern, eventuell noch in Tateinheit mit Vergewaltigung bezichtigt wird und sich nun gegen diese über Jahre „gereifte“ Aussage – die nichts anderes als das Ergebnis einer Autosuggestion ist – wehren muss.

Gefährliche Methoden der Therapie

Es gibt sehr unterschiedliche Formen der Psychotherapie:

Die einen sind, wie etwa die Verhaltenstherapie, symptomzentriert oder explizit nicht-direktiv, wie die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie.

Solche Formen haben deshalb ein erheblich geringeres Potenzial zum Auslösen autosuggestiver Prozesse bei dem Patienten als Therapieformen, bei denen dem Patienten Deutungen seiner Äußerungen vorgeschlagen werden, wie etwa die Psychoanalyse.

Der Patient ist der im späteren Missbrauchsverfahren dann der einzige Belastungszeuge von Sachverhalten, die im Verurteilungsfalle immer zu Freiheitsstrafen, oft zu mehrjährigen Vollzugsstrafen führen.

Im Strafverfahren äußerst schwierig zu bewerten sind Aussagen eines Zeugen, die im Zuge deutender bzw. interpretierender Therapiemethoden generiert wurden über Ereignisse, an die der Patient und spätere Zeuge zuvor gar keine Erinnerungen hatte.

Hypothese suggestiver Beeinflussung

Eine Widerlegung der Hypothese suggestiver Beeinflussungen ist bei auf diese Weise zustande gekommenen belastenden Aussagen nur möglich, wenn vollständige Wortprotokolle der Therapiegespräche ausgewertet werden können, was so gut wie nie möglich ist.

Der Verteidiger muss also die gesamte Entstehungsgeschichte der Aussage mit größter Sorgfalt auf Hinweise prüfen, ob die Aussage des einzigen Belastungszeugen das vollständige oder teilweise Ergebnis autosuggestiver Prozesse sein könnte.

Dabei darf er sich keineswegs nur auf die Informationen verlassen, die er in den staatsanwaltlichen oder gerichtlichen Verfahrensakten findet, sondern muss den Beschuldigten und gegebenenfalls dessen Umfeld entsprechend befragen. Dabei zum Vorschein kommende weitere Erkenntnisquellen hat er ebenfalls vollständig auszuwerten.

Gelingt es dem Verteidiger nämlich darzulegen, dass die Hypothese der suggestiven Beeinflussung nicht zurückzuweisen ist, werden die Angaben des Belastungszeugen als nicht glaubhaft bewertet – was zwar nicht heißt, dass sie unwahr sind, aber eben auch nicht zu Lasten des Beschuldigten oder Angeklagten in die Beweiswürdigung eingestellt werden können.