Cannabis und Alkohol – Gleiches ungleich behandelt
Über das alte Preußen, die Gewaltenteilung und die Frage, weswegen der Besitz von Cannabis, Marihuana oder Haschisch zum Eigenkonsum noch immer unter Strafe steht
Der Kater der Silvesternacht ist schon durch die zum Neujahrsempfang kredenzten Spirituosen – Sekt pur, Sekt orange, in finanziell aufstrebenden Kreisen auch gerne Champagner (den aber bitte nur pur) – sorgsam übertüncht, nun steht die vermeintlich lustigste Jahreszeit an, die ohne ein gerüttelt Maß an alkoholischen Getränken kaum zu überstehen wäre, insbesondere, wenn man als Person des öffentlichen Lebens am Sitzungskarneval teilzunehmen hat.
So ist es denn auch erklärlich, weswegen in Deutschland jede Person ab dem Alter von 18 Jahren Alkohol in jeder beliebigen Konzentrations- und Darreichungsform in beliebigen Mengen zu absoluten Spottpreisen kaufen kann. Wer Alkohol in Deutschland für teuer oder gar überteuert hält, begebe sich beispielsweise nach Schweden und erwerbe dort eine Kiste Bier, er wird arm, indessen eines Besseren belehrt, zurückkehren.
Rausch und Religion für ein duldsames Volk
Das Volk braucht also seinen Rausch; den gesteht ihm unsere Obrigkeit also noch zu in der Erkenntnis, dass bei dem erheblich schwindenden Interesse an der Religionsausübung der Marx´sche Ausspruch, die Religion sei der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände sei, sie sei das Opium des Volks, insofern zutreffend sei, dass das Volk die aktuellen Zustände nur im Rausch ertrage. Wenn die Religion nicht mehr in der Lage ist, diesen Rausch zu bieten, muss eben ein anderes Rauschmittel legalisiert werden.
Der Fürsorgestaat entmündigt seine Bürger
Die Wahl des Rauschmittels bleibt dem Volke allerdings nicht selbst überlassen.
Ich bitte Sie! Wo sind wir denn?
Etwa in einem modernen Bürgerstaat mit echten Staatsbürgern, die durch die ihnen vermittelte, staatlich organisierte Erziehung und dadurch erlangte persönliche Reife selbst zu entscheiden in der Lage sind, was ihnen nutzt und was ihnen schadet?
Oder doch in einem absolutistischen Obrigkeitsstaat nach dem Vorbild Preußens zur Zeit des Wiener Kongresses, also nichts anderes als einer kommoden Diktatur?
Wenn man sich die Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes ansieht, vermutet man sich im alten Preußen, dort, wo die Obrigkeit dem Untertanen in gottesähnlicher Weisheit vorschreibt, was gut und was schlecht für ihn sei – selbstredend nur zu seinem Besten.
und Darreichungsform in beliebigen Mengen zu absoluten Spottpreisen kaufen kann. Wer Alkohol in Deutschland für teuer oder gar überteuert hält, begebe sich beispielsweise nach Schweden und erwerbe dort eine Kiste Bier, er wird arm, indessen eines Besseren belehrt, zurückkehren
Warum soll Cannabis legalisiert werden?
Apropos Bestes: Alkohol ist die Droge, die am häufigsten zur behandlungsbedürftigen Abhängigkeitsentwicklung führt. In Deutschland sind etwa 2,5 Millionen Menschen alkoholabhängig. Keine geringere Institution als das Statistische Bundesamt zählte für das Jahr 2000 16.000 Tote durch Alkoholkonsum; das Deutsche Rote Kreuz berichtet von 40.000 Todesfällen, der Drogen- und Suchtbericht 2009 der Drogenbeauftragten der deutschen Bundesregierung spricht von mindestens 73.000 Toten als Folge übermäßigen Alkoholkonsums.
Die Kosten dieses verordneten Besten, die das Gemeinwesen zu tragen hat, lassen wir einmal unerwähnt und werfen stattdessen einen Blick in die deutsche Verfassung, in das Grundgesetz, wo wir gleich im dritten Artikel hinsichtlich unseres Disputes fündig werden: Dort heißt es sinngemäß, dass der Staat Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln hat. Dieser Schluss ergibt sich nach kurzem Nachdenken zwar auch recht zwangslos aus der scharfen Waffe der Menschenwürde, nun ist Nachdenken aber nicht jedermanns Sache, insbesondere dann nicht, wenn das Ergebnis des Denkprozesses vorgegeben ist.
Selbst Richtern kamen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit
Im schönen Lübeck geschah es im Jahre 1992, dass sich der Vorsitzende einer Strafkammer anlässlich eines entsprechenden Betäubungsmittelverfahrens die Frage stellte, weswegen der Erwerb, der Besitz und die Einfuhr von Alkoholika in beliebiger Menge erlaubt, hingegen der Erwerb, der Besitz und die Einfuhr von Cannabisprodukten zum Zweck des Eigenkonsums mit Kriminalstrafe bedacht seien.
Wegen der Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) legte die Lübecker Strafkammer die Frage, ob § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG (Handlungsalternative Abgabe) in Verbindung mit § 1 Abs. 1 BtMG und dessen Anlage I (Haschisch) mit dem Grundgesetz vereinbar seien, dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor.
Gewaltenteilung endet spätestens bei der Verfassung
Um die besonders demokratischen Prozesse und vor allem die strikte Gewaltentrennung von rechtsprechender, vollziehender und gesetzgebender Gewalt in unserem Staat zu verstehen, muss man wissen, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht etwa durch ganz besondere juristische oder anderweitige Qualifikationen an dieses höchste deutsche Gericht gelangen, sondern sie gewählt (!) werden, und zwar je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat. Steht auch im Grundgesetz, nur dort, wo keiner mehr liest, nämlich in Art. 94 GG.
Politikerkasten bestimmen des Volkes Wohl, gießen es in Gesetze, teilweise eben auch in Strafgesetze, und wenn jemandem Zweifel daran kommen, ob diese Gesetzeswerke noch mit den hehren Leitbildern des Grundgesetzes – Menschenwürde, Gleichheitssatz, freie Persönlichkeitsentfaltung jedenfalls dort, wo kein anderer tangiert ist – in Einklang stehen, überprüfen solche Richter diese Frage, die wiederum von den Politikern gewählt wurden, die eben diese Gesetze erlassen haben.
Dass das im Bundesverfassungsgericht zusammengefasste Controlling-Team nur selten etwas auszusetzen hat und falls einmal doch, dies oft auf innerparteilichen Zwistigkeiten beruht, ist nun einfacher nachzuvollziehen.
Das von Bundesrat und Bundestag gewählte Bundesverfassungsgericht ließ sich die Chance dieser Vorlage aus Lübeck nicht entgehen und urteilte:
„Der Gleichheitssatz gebietet nicht, alle potentiell gleich schädlichen Drogen gleichermaßen zu verbieten oder zuzulassen. Der Gesetzgeber konnte ohne Verfassungsverstoß den Umgang mit Cannabisprodukten einerseits, mit Alkohol oder Nikotin andererseits unterschiedlich regeln.“
„Für den Umgang mit Drogen gelten die Schranken des Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz. Ein ‚Recht auf Rausch‘, das diesen Beschränkungen entzogen wäre, gibt es nicht.“
(Sammlung der Entscheidungen des BVerfG, Band 90, Seite 145)
Die Entscheidung erging im Übrigen gegen zwei abweichende Stimmen, nämlich die der Richterin Graßhof und des Richters Sommer.
Die Entscheidung ist nun nicht nur sehr überzeugend, sondern fügt sich dazu noch in die alte deutsche Tradition des kräftigen Bierkonsums – egal ob preußisch oder bayrisch – ein.
Der Fall Wiesheu - oder die Doppelmoral der Alkoholkonsumenten
So können Sie beispielweise in Bayern, dem Land des Weißbiers, mit 1.75 Promille, also rotzbesoffen, mit Ihrer Mercedes S-Klasse auf der Autobahn einen polnischen KZ-Überlebenden totfahren, und werden hernach und trotz Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung tateinheitlich mit Straßenverkehrsgefährdung infolge jahrelanger CSU-Zugehörigkeit zum bayrischen Verkehrsminister ernannt. Damit aber nicht genug, nachdem Sie dieses Amt dann tadellos versehen und sämtliche Aktionen gegen Alkohol am Steuer vorbildlich unterstützt haben, macht ihre CSU Sie dann zum Wirtschaftsminister, denn in Wirtschaften kennen Sie sich ja bestens aus. Den bayrischen Verdienstorden bekommen sie noch obendrein.
Will der mündige Bürger all das nicht wahrnehmen, oder ist es ihm egal, solange es auf dem Oktoberfest genug Hacker-Pschorr zu saufen gibt, so dass an diesen Skandal bayrischer CSU-Geschichte heute nur noch Gerhard Polt regelmäßig erinnert („Die Leber“ und „Democracy“)? Der mündige Bürger sieht auch zu, wie der trinkfeste bayrische Amtsrichter auf Antrag des nicht minder trinkerprobten Staatsanwaltes den wegen des Besitzes von 20 Gramm Marihuana Angeklagten zu sieben Monaten Haft verurteilt.
Otto Wiesheu bekam wegen des toten Polen vom Landgericht München übrigens 12 Monate – ebenfalls auf Bewährung, versteht sich.
Was hat das alles mit Cannabis zu tun? Das Bundesverfassungsgericht hat nun geurteilt, es gäbe kein Recht auf Rausch.
Aber es gibt eine Tradition des Rausches, und zwar seit Existenz der Menschheit. Der Rausch wird zelebriert vom Priester während der Messe, er ist sozial verpflichtend bei Festen und Partei-Veranstaltungen, nicht nur bei der CSU, gehört zum Karneval, zum Jahreswechsel, zur Kirchweih, dem Oktoberfest und dem Dürkheimer Wurstmarkt. In Germanien berauschte man sich ganz überwiegend mit Bier, einem seiner Vorläufer oder eben Wein.
Cannabis ist im Gegensatz zu Bier, Wein oder ähnlichem Getränke das am wenigsten körperlich schädigende, am wenigsten suchterzeugende und dazu in anderen Regionen dieser Erde seit Jahrtausenden, als die Erde noch eine Scheibe war, genossene Rauschmittel. Die Amtsrichter, die aus Unwissenheit Gegenteiliges behaupten („Einstiegsdroge“), dürften mittlerweile nahezu sämtlich pensioniert sein.
Wäre es nicht allmählich Zeit zum Umdenken?
Bei der Frage, ob Deutschland die Kosten für Flüchtlinge alleine oder auch nur zum großen Teil übernehmen könne oder solle, ist man inzwischen einhellig der Meinung, dass dies nicht ginge. Die Frage, wer denn die enormen Kosten der Strafverfolgung, angefangenen vom Ermittlungsverfahren, über Zwischen-, Haupt-, Berufungs- und Revisionsverfahren bis hin zur Strafvollstreckung beim Erwerb von Cannabis zum Eigenkonsum übernehmen solle und ob das Kosten-Nutzen-Verhalten auch nur noch im Ansatz gewahrt ist, interessiert die meisten Deutschen offenbar nicht im Geringsten.
Ein Gegenargument wäre in der Tat, den Umgang mit Cannabis weiter so kostenintensiv und hart zu verfolgen, dass die jährlichen Steuereinnahmen von 2,1 Milliarden Euro Branntweinsteuer, 0,7 Milliarden Euro Biersteuer und 0,5 Milliarden Euro Steuer auf andere alkoholische Getränke wie Schaumwein oder Sherry gefährdet würden. Und 3,3 Milliarden sind nun schon ein Sümmchen.
Hier sei der Präsident des Bundesverfassungsgerichts von 1987 bis 1994, in dessen Amtszeit die erwähnte „Cannabis-Entscheidung“ fällt, zitiert:
„Aber es ist auch noch nicht zu spät. Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen.“
Bei einem solchen Maß an geforderter Flexibilität ist es ein Leichtes, auf eventuelle Steuereinnahmen zu verzichten, wenn dadurch die Volksgesundheit gefördert wird – so, wie wir Untertanen es bei der Erhöhung der Tabaksteuer gesehen haben, die ja auch deshalb in drei Stufen erfolgte, um Arbeitsplätze in der Zigarettenindustrie nicht zu gefährden (Originalton Ulla Schmidt), wie es auch dem besonderen Wunsch von Hans Eichel entsprach, offenkundig, damit nicht so viele Raucher das Rauschen gleich ganz aufgeben, wie es zu besorgen stünde, wenn die Erhöhung in einem einzigen Schritt vollzogen würde.
Drei Millionen Deutsche konsumieren regelmäßig Cannabis, entrichten auf den Konsum aber keine Steuern, da der Obrigkeitsstaat entschied, nur Saufen sei legal und somit steuerbar. Von diesen drei Millionen hat ein halbes Prozent sein Leben nicht im Griff, bei den Säufern sind es zehn Prozent. Aber die zahlen mit dem Kauf jedes Kirschbrandes wenigstens gleich die Branntweinsteuer mit. Die kann das Gemeinwohl ja dann verwenden, um die dadurch verursachten Kosten im Gesundheitswesen und die Arbeitsausfallzeiten wenigstens bruchteilsweise auszugleichen.
Solange mit dem Erwerb, dem Besitz, überhaupt dem Umgang mit Cannabis nicht so verfahren worden ist, wie mit dem Grundgesetz zuwiderlaufenden anderen Straftatbeständen, wie der „Unzucht zwischen Männern“, ehemals § 175 StGB, in Kraft bis 1994 (!), oder der bis 1997 (nach Christus, in Deutschland!) nur „außerehelich“ begehbaren Vergewaltigung, bleibt es dem Beschuldigten eines Betäubungsmittelverfahrens nur, alles an Verteidigungspotential in Gang zu setzen, was das Strafprozessrecht zur Verfügung stellt, um vielleicht in der dritten Instanz auf einen nicht gewählten Richter zu stoßen, der wie der Lübecker Kammervorsitzender vor 22 Jahren den nochmaligen Frevel eines Vorlageverfahrens begeht oder aus prozessökonomischen Gründen und der nicht entgegenstehenden Schwere der Schuld einer Verfahrenseinstellung zustimmt.