Sexualstrafrecht – Aussage-gegen-Aussage

Irrtum 1

„Wenn „Aussage-gegen-Aussage“ steht, muss der Angeklagte nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ freigesprochen werden.“

Das ist der am weitesten verbreitete und folgenschwerste Irrtum, dem man im Zusammenhang mit Sexualdelikten unterliegen kann!

Bei den Kerndelikten des Sexualstrafrechts, also dem Kindesmissbrauch (§ 176 StGB) in all seinen Varianten und der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung (§ 177 StGB) stehen sich in 19 von 20 Fällen nur der Beschuldigte und die Person, die von sich behauptet, Opfer eines Geschehens zu sein, als Beteiligte des – angeblichen – Geschehens und damit auch bei dessen justizieller Aufarbeitung gegenüber.

Irrtum 2

Der zweite fatale Irrtum im Zusammenhang mit Sexualdelikten ist die Annahme, die Aussage eines Zeugen sei kein Beweismittel, denn Beweismittel seien nur objektiv zu bewertende Umstände und eine Zeugenaussage sei ja etwas höchst Subjektives und Manipulierbares.

Im Strafprozess sind Beweismittel

  • der Augenschein (Besichtigung des Tatorts, der Mordwaffe, der ausgetauschten WhatsApp-Nachrichten usw.),
  • der Zeuge (!),
  • der Sachverständige und
  • Urkunden (der Drohbrief, der Ausdruck der WhatsApp-Nachrichten).

Die Vernehmung des Angeklagten gehört nicht formell zur Beweisaufnahme (§ 244 I StPO).

Die Aussage des Zeugen ist also eines der fünf Beweismittel im Strafprozess.

Selten stehen bei Missbrauchs- oder Vergewaltigungsverfahren andere Sachbeweise, oder – in Ausnahmefällen auch andere Personalbeweise als die des angeblichen Opfers – zur Verfügung (es sei denn, die Missbrauchshandlung wurde von einem Dritten beobachtet oder gehört), die geeignet sind, die Angaben eines der Antagonisten zu objektivieren.

Wenn solche Drittbezüge fehlen, besteht die Konstellation „Aussage gegen Aussage“:

Definition

Der Schilderung eines strafbewehrten Sachverhalts (Missbrauchs-/Vergewaltigungs-/sexuelle Nötigungshandlung) durch eine einzige Aussageperson stehen eine bezüglich mindestens eines Tatbestandsmerkmals bestreitende Darstellung oder das Schweigen des Angeklagten gegenüber, ohne dass ergänzend auf andere – unmittelbar tatbezogene – Beweismittel zurückgegriffen werden kann.

Kein Alles-oder-nichts-Prinzip

Warum „bezüglich mindestens eines Tatbestandsmerkmals bestreitende Darstellung“ oder Schweigen?

Bei der Vergewaltigung beispielsweise kann der nicht schweigende Beschuldigte vortragen, es habe überhaupt keine sexuelle Handlung zwischen ihm und der Zeugin gegeben. Er bestreitet dann das gesamte Geschehen.

Er kann aber auch vortragen, es habe sehr wohl sexuelle Handlungen gegeben, diese seien aber im ausdrücklichen Einverständnis mit dem Sexualpartner unternommen worden. Es wird also lediglich das Tatbestandsmerkmal „gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person“ bestritten.

Auch bei dem sexuellen Missbrauch kann der Beschuldigte irgendwelche sexuellen Handlungen mit dem Kind ganz in Abrede stellen.

Nicht selten fruchtet eine Verteidigung, die bei einem Geschehen unter flüchtig bekannten Personen strafbarkeitsbegründende Tatbestandsmerkmale wie „Kind“ oder „Jugendliche“ insofern in Abrede stellen, als der Vorsatz darauf fehlt: Man habe angenommen, die Sexualpartnerin sei 18 Jahre, so dass Sex gegen Entgelt nicht strafbar ist – im Gegensatz zu Sex gegen Entgelt mit einer Siebzehnjährigen. Der Neunzehnjährige Beschuldigte sagt aus, er habe angenommen, seine Internetbekanntschaft sei vierzehn, dabei war sie erst dreizehn. Das ist ein Unterschied von zwei Jahren aufwärts und Straflosigkeit.

Beweiswürdigung

Wie werden nun die Beweise – also die Aussage des Belastungszeugen – und die Einlassung des Beschuldigten bzw. sein Schweigen bewertet?

Die Staatsanwaltschaft hat eine solche Beweiswürdigung im Ermittlungsverfahren vorzunehmen, um zu entscheiden, ob das Verfahren eingestellt oder Anklage erhoben wird.

Hat sie Anklage erhoben, hat das von ihr angerufene Gericht zunächst im Zwischenverfahren zu entscheiden, ob es die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage zulässt und das Hauptverfahren eröffnet oder die Eröffnung ablehnt.

Hat das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens zugelassen, muss es zum Schluss der Hauptverhandlung wiederum die Beweise würdigen, allen voran eben die Aussage des Belastungszeugen und wiederum die Angaben oder das Schweigen des Angeklagten.

Schweigen

Wichtig ist dabei, dass dem Angeklagten aus dem Umstand heraus, dass er schweigt, keine auch noch so kleinen Nachteile entstehen dürfen.

In dieser Hinsicht sind Revisionsgerichte äußerst empfindlich und heben Urteile auf, in denen auch nur der Eindruck entsteht, das Tatsachengericht könnte das Schweigen des Angeklagten in irgendeiner Weise zu dessen Lasten gewertet haben.

Gleichwertigkeit

Die Aussage des Angeklagten und die des (einzigen) Belastungszeugen stehen sich gleichwertig gegenüber, es kommt auf die innere Plausibilität und Schlüssigkeit der Angaben an und nicht darauf, dass der Zeuge im Falle einer falschen Aussage strafrechtlich belangt werden kann (uneidliche Falschaussage, Meineid), während der Angeklagte nicht bestraft wird, wenn er die Tat wahrheitswidrig bestreitet.

Pflicht zur Aufklärung

Unser Bundesgerichtshof hat sich – jedenfalls an dieser Stelle – sehr verständlich ausgedrückt:

„Stehen sich Bekundungen eines – insbesondere einzigen – Zeugen und des Angeklagten unvereinbar gegenüber („Aussage gegen Aussage”), darf das Gericht allerdings den Bekundungen dieses Zeugen nicht deshalb, weil er Anzeigeerstatter und (gegebenenfalls) Geschädigter ist, ein schon im Ansatz ausschlaggebend höheres Gewicht beimessen als den Angaben des Angeklagten. Maßgebend ist nicht allein die formale Stellung des Aussagenden im Prozess, sondern der innere Wert einer Aussage, also deren Glaubhaftigkeit. Es ist in einer Gesamtwürdigung zu entscheiden, ob einer solchen Zeugenaussage gefolgt werden kann.“

Sorgfalt beim Urteil

In der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation muss das Gericht bei der Beweiswürdigung in den schriftlichen Urteilsgründen besondere Sorgfalt walten lassen. Diese betrifft einerseits die Mitteilungs- und Darlegungspflichten, andererseits die Erörterungs- und Würdigungsanforderungen im Urteil.

Die wesentlichen Elemente der Beweisaufnahme– Sacherklärung des Angeklagten, Aussage des einzigen Belastungszeugen, ggf. Inhalt eines aussagepsychologischen Gutachtens- muss das Gericht im schriftlichen Urteil darlegen.

Darauf aufbauend hat die Erörterung und Würdigung der Beweise stattzufinden, um eine für das Revisionsgericht überprüfbare – an intersubjektiv nachvollziehbaren rationalen Kriterien zu messende – Entscheidung zu formulieren.

Das Urteil muss darlegen, dass das Gericht alle für oder gegen den Angeklagten sprechenden Umstände erkannt, erwogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat

Revision

Die profunde Kenntnis dieser Rechtsprechung zur Beweiswürdigung in der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation ist das A und O für den Verteidiger in Sexualstrafsachen, um gegen sachlich falsche Urteile erfolgreich mit der Revision vorgehen zu können.

Gleichstand

Nur dann, wenn die Aussage des Belastungszeugen und die Einlassung des Angeklagten eine nach korrekten aussagepsychologischen Kriterien gemessene identische Qualität aufweisen, ist die Aussage des Belastungszeugen nicht geeignet, die Unschuldsvermutung zu überwinden. Erst dann – und nicht bereits bei dem bloßen Bestehen der Aussage-gegen-Aussage.-Konstellation – greift der Zweifelsgrundsatz, so dass der Angeklagte freigesprochen werden muss.

Fehlurteile

Hielten sich alle den Revisionsgerichten untergeordneten Gerichte an diese Grundsätze, gäbe es bei der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation keine derart hohe Zahl an Fehlurteilen, wie sie bei keinen anderen Beweissituationen zu finden ist.

Nähmen die Tatsachengerichte die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ernst, müsste das Fehlen eines wesentlichen aussagepsychologischen Kriteriums, das nach allgemeinen aussagepsychologischen Standards in einer erlebnisfundierten Aussage enthalten ist, in der Belastungsaussage – beispielsweise die Konsistenz der Angaben, deren Detailreichtum, deren Konstanz – an einer Verurteilung des Angeklagten hindern.

Folgende Umstände hindern aber offensichtlich aussagepsychologische Sachverständige („Glaubhaftigkeitsgutachter“) und Richter daran, einen Freispruch des Angeklagten nicht widerstandslos hinzunehmen:

Falsch verstandene Empathie

Falsch verstandene Empathie mit dem Zeugen oder der Zeugin (von dem bzw. von der Sachverständiger annehmen, er oder sie sei tatsächlich Opfer einer Sexualstraftat geworden) führt dazu, dass Sachverständige Aussagen in ihren Glaubhaftigkeitsgutachten durch Kunstgriffe „glätten“ (jüngst mir zugemutete Formulierung einer Sachverständigen, mit dem ein eklatanter Widerspruch eines Zeugen weggebügelt werden sollte:

„Die entsprechende Antwort erfolgte auf eine geschlossene Frage der Unterzeichnerin. Insofern ist es denkbar, dass der Zeuge die Frage spontan erlebnisfern bejaht haben könnte. Auch die Verneinung der Frage zur Freiwilligkeit sexueller Handlungen in der Vernehmung erfolgte auf eine geschlossene Frage, die keine eigenständige Aussageleistung darstellt, und es sich um eine spontan hervorgerufene erlebnisferne Verneinung handeln könnte. Damit steht das abweichende Aussageverhalten einem Erlebnisbezug nicht notwendigerweise entgegen.“

Sorge der (Re-) Traumatisierung des Zeugen

Richter und insbesondere Schöffen meinen, den (fälschlicherweise) sicher als Opfer erkannten Zeugen durch einen Freispruch des Angeklagten als Lügner, dem man nicht glaube, hinzustellen und ihn (oder sie) alleine dadurch zu „re-traumatisieren“.

Sie übersehen dabei, dass ein zu Unrecht Verurteilter lebenslang aufs Schlimmste traumatisiert wird.

Nur Negation

Für den Beschuldigten bzw. Angeklagten besteht dann, wenn der Zeuge den Missbrauch, die sexuelle Nötigung oder die Vergewaltigung komplett erfunden hat, keine Möglichkeit diese Vorwürfe substantiell zu widerlegen.

Der Angeklagte kann dann nur sagen, dass es so, wie in der Anklage niedergeschrieben nicht war, er kann aber gerade nicht sagen, wie es stattdessen war, weil eben nichts stattdessen war.

Es bleibt letztlich nur deren Negation, so dass der Angeklagte auf die Anklagevorwürfe „nur“ vorbringen kann, die ihm zur Last gelegten Taten nicht begangen zu haben, während der Belastungszeuge eine ganze Geschichte erzählt und diese – je nach schauspielerischen und / oder rhetorischen Talent auch noch in allen Facetten ausbaut.

Pflicht des Verteidigers

Der Verteidiger muss diese Punkte nicht nur irgendwie im Blick haben, sondern sie in den entsprechenden Prozesssituationen – rechtzeitig! – offen benennen.

Er hat die zur Entscheidung Berufenen – also Berufsrichter und Schöffen – auf mögliche Tendenzen zu einer nicht professionellen, das heißt in der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation: nicht an den objektiven Kriterien der merkmalsorientieren Glaubhaftigkeitsprüfung ausgerichteten Beweiswürdigung hinzuweisen, um sie zu unterbinden.

Unheil bei Versagen

Gerade zwischen Kindern und ihren Eltern – klassisches Beispiel: der Stiefvater oder der neue Lebensgefährte – erfordert die Suche nach der Wahrheit Augenmaß, Präzision und Vorsicht. Nirgendwo sonst könne Justiz im Versagensfall so viel Unheil anrichten.