Aggravation

Aggravation - Indiz für die fehlende Glaubhaftigkeit der Angaben eines Belastungszeugen

Aggravation (von lat. aggravare: schwerer machen, verschlimmern) ist im aussagepsychologisch-forensischen Zusammenhang eine Verschärfung der von einem Zeugen vorgetragenen Tatvorwürfe im Zuge der Aussageentstehung.

Beispielsweise berichtet die Zeugin bei der ersten Einvernahme, der Beschuldigte habe ihr „mit Schlägen gedroht„, bei der zweiten Einvernahme, berichtet sie, er habe ihr „eine geschmiert“, bei der dritten Einvernahme spricht sie von „zwei Ohrfeigen“.

Diese fehlende Konstanz ist vom Verteidiger gerade im Falle der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation bei Sexualdelikten gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben des Belastungszeugen bzw. der Belastunsgzeugin anzuführen und aussagepsyschologisch zu untermauern. 

Durch Feststellung und „Dingfestmachen“ einer Aggravation in einer Weise, dass das Gericht diese in den Urteilsgründen zwingend behandeln musste und damit seine diesbezügliche Bewertung dem Revisionsgericht zugänglich gemacht wurden, konnten bereits einige Fälle der absichtlichen Falschbelastung durch Belastungszeugen in Sexualstrafverfahren, die den sexuellen Missbrauch, die sexuelle Nötigung oder die Vergewaltigung zum Tatvorwurf hatten.

Freispruch im Vergewaltigungsverfahren in Frankfurt am Main wegen Aggravation

Der Verteidiger Barduhn begründete den beantragten Freispruch in einem Vergewaltigungsverfahren vor dem Schöffengericht Frankfurt am Main unter anderem mit einer solchen in der Aussage der Belastungszeugin festzustellenden Aggravation, das Gericht folgte ihm und sprach den Angeklagten mit rechtskräftigem Urteil vom 7. August 2012 [AG Frankfurt 911 A Ls 4871 Js 234221/11] frei.

BGH hebt Verurteilung wg. Sexualdelikt des LG Freiburg auf

Der Bundesgerichtshof hob eine Verurteilung einer Strafkammer des Landgerichts Freiburg wegen Vergewaltigung, gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung u. a. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren auf die Revision der Verteidigung auf.

Begründet wurde der aufhebende Beschluss mit der vom Landgericht zwar erkannten, aber unzureichend gewürdigten Aggravation der Angaben des mutmaßlichen Opfers:

„Schließlich setzt sich die Strafkammer auch nicht ausreichend mit dem Umstand auseinander, dass die Nebenklägerin erstmals in der Hauptverhandlung bekundete, der Angeklagte habe sie bei der Tat vom 9. Januar 2016 mit einem Messer bedroht und ihr dieses an den Hals gehalten. Zwar hat das Landgericht erkannt, dass es sich bei dieser Bekundung der Nebenklägerin um eine Aggravation handelte. Es hat diese erhebliche Aggravation aber lediglich unter dem Gesichtspunkt einer etwaigen Falschbelastungstendenz der Nebenklägerin erörtert und ausgeführt, gegen eine solche Falschbelastungstendenz der Zeugin spreche, dass sie sich in der Hauptverhandlung im Zusammenhang mit dieser Tat auch an für den Angeklagten negative Umstände, die sie noch im Ermittlungsverfahren angegeben habe, nicht mehr habe erinnern können (UA S. 13).

Eine Erklärung für diese erhebliche Aggravation findet sich in dem angefochtenen Urteil nicht. Ob bei einer Tat ein Messer zum Einsatz kam, ist aber naheliegend eine besonders nachhaltig im Gedächtnis haftende Einzelheit der Tatbegehung; vorliegend gilt dies umso mehr, als nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen bei keiner der anderen Taten ein Messer verwendet wurde. Werden zu einem derart gravierenden Umstand der Tatbegehung unterschiedliche Angaben durch das Tatopfer gemacht, bedürfen diese der Erklärung und einer nachvollziehbaren Einordnung in das Beweisgebäude. Dies lässt das angefochtene Urteil vermissen.“

Der Verteidiger eines Sexualdelikts muss beim Lesen der Urteilsgründe erkennen, dass eine Strafkammer die besonderen Anforderungen an die Darlegung einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung in Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, verkannt hat, wenn eine solche Aggravation nicht auch bei der Aussageentstehung gewürdigt wird. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, nicht nur erkannt, sondern auch in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat.

Dabei sind gerade bei Sexualdelikten die Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage aufzuklären.

Diesen Anforderungen wurde das Urteil der Freiburger Strafkammer nicht gerecht. Die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin wurde nicht ausreichend belegt.