Sexueller Missbrauch – Besonderheiten der Verteidigung

Befangene Diktion

Wenn der zweite Strafsenat des Bundesgerichtshofs eine Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern durch das Landgericht komplett aufhebt, die Sache an eine andere Strafklammer des Landgerichts zurückverweist und dann in den Entscheidungsgründen von der „Geschädigten“ spricht [BGH 2 StR 185/10], ist das die verbale Beseitigung der Unschuldsvermutung.

Wenn das Urteil, das den Angeklagten nicht freispricht, sondern verurteilt, insgesamt mit seinen Feststellungen aufgehoben wird, dann gibt es keine festgestellte Tat und keinen Täter. Solange kein Täter festgestellt ist, ist auch keine „Geschädigte“ festgestellt.

Der Umstand, dass Berufsrichter in der Tatsacheninstanz vor Schöffen- oder Landgerichten vor der Verkündung des Urteils im Beisein der Schöffen von der „Geschädigten“ statt der Zeugin oder Nebenklägerin sprechen, hat selbstverständliche eine ganz erhebliche Suggestivwirkung auf die Schöffen, die bei der Urteilsberatung dasselbe Stimmrecht wie die Berufsrichter haben.

Der allerersten derartigen verbalen Entgleisung hat der Verteidiger entgegenzutreten!
Sie ist genauso erheblich wie die Bezeichnung des Angeklagten als „Täter“ vor der Urteilsverkündung.

Geständnis - "Angebot"

Faktisch weitaus problematischer ist indessen die bei mancher Strafkammer oder Staatsanwaltschaft bestehende – oder zur Einschüchterung von Verteidigung und Angeklagtem vorgegaukelte – Furcht, das vermeintliche Opfer durch eine Vernehmung als Zeuge oder Zeugin zu „reviktimisieren“, das (angebliche) Geschehen bei der Befragung nach Einzelheiten also wieder durchleben zu lassen.

Dem Angeklagten wird insofern von manchen Vorsitzenden deutlich gemacht, wie vorteilhaft sich ein Geständnis im Sinne der Vorwürfe der Anklageschrift doch auf das Strafmaß auswirke.
Er solle daher in sich gehen und überlegen, ob man den Zeugen oder die Zeugin tatsächlich im Gerichtssaal vernehmen müsse.

Damit ist natürlich die nicht ausgesprochene Drohung verbunden, dass im Falle des Bestreitens der Vorwürfe und einer dennoch erfolgenden Verurteilung die Strafe wegen der gerichtlichen Vernehmung des Zeugen oder der Zeugin mit intensiver Befragung durch den Verteidiger beträchtlich hoch ausfalle.

In Fällen, in denen auch ein besonnener Angeklagter den Eindruck gewinnen muss, dass in diesem richterlichen „Angebot“ die Überzeugung des Richters zum Ausdruck kommt, der Angeklagte sei der Täter, der Richter sich also schon festgelegt hat, ist die Ablehnung dieses Richters wegen der Besorgnis der Befangenheit die einzig richtige Reaktion.

Vorladung

Sie haben gerade eine Vorladung als Beschuldigter aus dem Briefkasten genommen, in der Ihnen eine bestimmte Kriminaldirektion eines Polizeipräsidiums mitteilt, Sie sollen sich zu einer bestimmten Stunde eines bestimmten Tages zu einer Vernehmung einfinden.

Gehen Sie nicht zum Vernehmungstermin! Rufen Sie auch nicht dort an. Weder, um den Termin abzusagen, noch, um Erkundigungen einzuholen, wer, wann, weswegen, aufgrund welcher Vorfälle Strafanzeige gegen Sie erstattet habe.

Was man schwarz auf weis besitzt

In Zeiten, in denen virtuelle Meetings mit weltweit verteilten Teilnehmern zur Normalität gehören, werden vor deutschen Landgerichten weder Ton- noch Filmaufnahmen gemacht, die den Verfahrensbeteiligten Zugang zu einer objektiven Dokumentation der Hauptverhandlung ermöglichten.

Stattdessen schreiben der Vorsitzende Richter und sein(e) Beisitzer das, was sie an Aussagen von Zeugen verstanden haben wollen, eher inhaltlich als wörtlich mit.

Dem Verteidiger geht es nicht anders.

Der Vorsitzende leitet die Verhandlung, vernimmt den Angeklagten, die Zeugen, die Sachverständigen und soll dann auch noch darauf achten, dass der Prozessstoff korrekt erfasst worden ist.

Das Ergebnis dieser von der Strafprozessordnung, Jahrgang 1877, festgelegten Vorgehensweise ist ständiger Streit bei der Befragung von Zeugen, ob diese oder jene Frage schon gestellt worden ist, und das Verkürzen oder Weglassen bestimmter Zeugenangaben bei der Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe.

Damit kann dem Revisionsgericht der „falsche Film“ vorgespielt werden, indem etwa „unpassende“ Aussageteile oder Vorgänge in der Hauptverhandlung schlichtweg nicht erwähnt werden.
Bei Verfahren vor dem Landgericht findet nämlich nicht einmal – im Gegensatz zum Amtsgericht – eine inhaltliche Protokollierung der Zeugenaussagen statt.

Das Festschreiben von Vorgängen und Aussageinhalten in der Hauptverhandlung ist somit eine der größten Herausforderungen des Strafverteidigers in Missbrauchsverfahren.

Gelingt es ihm nicht, Entlastendes so festzuschreiben, dass das Gericht sich damit im Urteil auseinandersetzen muss, läuft er Gefahr, dass es im Urteil nicht erwähnt wird – und damit vom Revisionsgericht gar nicht erst überprüft werden kann.

Das 200 Jahre alte, aber für jedes Missbrauchsverfahren auch noch 2022 geltende Zitat aus dem Faust lautet nach der Originalausgabe 1808:

Mephistopheles.

Damit ihr nachher besser seht,
Daß er nichts sagt, als was im Buche steht;
Doch euch des Schreibens ja befleißt,
Als dictirt’ euch der Heilig’ Geist!

Schüler.
Das sollt ihr mir nicht zweymal sagen!
Ich denke mir wie viel es nutzt;
Denn, was man schwarz auf weiß besitzt,
Kann man getrost nach Hause tragen.

Was man schwarz auf weis besitzt, was also in den Urteilsgründen behandelt werden musste, kann man in der Revisionsbegründung „getrost“ vortragen, ohne damit rechnen zu müssen, abgewiesen zu werden mit der bei Revisionsgerichten beliebten Feststellung, man unternehme den „Versuch der Rekonstruktion der Hauptverhandlung„.

Auffällige Psyche

Psychische Auffälligkeiten einer Zeugin oder eines Zeugen bergen die Gefahr, dass diese als Folge – und nicht als Ursache – der Tatvorwürfe missdeutet werden.
Es stellt sich die berühmte Frage nach der chronologischen früheren Existenz des Eis oder des Huhns.

Es gibt heutzutage keinen Zeugen in einem Missbrauchsprozess mehr, der nicht an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet.

Dem von einigen psychologischen Sachverständigen gezogene Zirkelschluss, die Tat müsse ja begangen worden sein, denn schließlich sei die Belastungsstörung ja darauf zurückzuführen, muss im Ansatz entgegengetreten werden.

Gerade psychisch labile Personen sind in besonderem Maße anfällig für Autosuggestionen, so dass die Missbrauchsvorwürfe oft Folge der Erkrankung sind – und nicht die Erkrankung Folge der Missbrauchsvorwürfe ist.

Begutachtung

Verteidiger – nicht die besten – unterliegen dem Irrtum, ihren Beistandspflichten bei problematischen Zeugenpersönlichkeiten mit der Beantragung eines aussagepsychologischen Gutachtens Genüge getan zu haben.

Sie verkennen dabei, dass es je nach Persönlichkeit des Zeugen angeraten ist, dem Gericht die Einholung eines aussagepsychologisches sowie zusätzlich eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens mittels entsprechender Beweisantragsstellung oder aber mittels entsprechender Fragestellungen an den vom Gericht gewählten aussagepsychologischen Sachverständigen aufzuerlegen.

Nebenklage

Der Anwaltstypus der sog. „Opferanwälte“, der zumeist in seiner strafrechtlichen Tätigkeit auf die Rolle der Nebenklage beschränkt ist, entwickelt sich zunehmend bei jungen Anwälten meistenteils weiblichen Geschlechtes offenbar zu einem erstrebenswerten Berufsbild.

Als Vertreter der Nebenklage haben sie grundsätzlich das Recht auf Akteneinsicht, wovon einige dieses Recht zur Erzeugung der Aussagekonstanz ihrer Mandantschaft nutzen:
Sie überlassen die polizeilichen oder ermittlungsrichterlichen Aussagen der oder dem vermeintlich Geschädigten in Form von Kopien mit dem Hinweis, bei der Vernehmung vor Gericht ja nichts zu vergessen, was er oder sie früher bei Polizei oder bei dem Ermittlungsrichter zum Besten gegeben habe.

Der Verteidiger hat bereits im staatanwaltlichen Ermittlungsverfahren alles daran zu setzen, dass der Vertreter des Zeugen möglichst wenig von der Verfahrensakte erhält, auf keinen Fall aber die Vernehmung des Zeugen.

Wie oft übernehme ich Verfahren, in denen schlichte Ausführungen wie die folgenden vom Verteidiger versäumt und dem Nebenklagevertreter die gesamte Akte überlassen worden ist:

Durch die Aktenkenntnis des mutmaßlich Verletzten ist eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung im Sinne des § 244 Abs. 2 StPO zu besorgen ist [vgl. BT-Drucks. 10/5305, S. 18], da durch eine Akteneinsicht des mutmaßlich Verletzten die Gefahr einer Präparierung seiner Aussage anhand des Akteninhalts begründet wird, so dass diese zu versagen ist.